par Ulrich Mückenberger
Die Finanzmarktkrise hat auf deutschen Arbeitsmärkte Prekarisierungs- und Segmentarisierungsprozesse verstärkt. Sie hat sie aber nicht ausgelöst.
Die Beschäftigungskrise wurde durch Interventionen der Politik und der Unternehmen „abgefedert » – gemäß dem „Gemeinschafts-Paradigma » der deutschen Arbeitsbeziehungen, das ich in vergleichenden Arbeiten mit Alain Supiot und Brian Bercusson herausgearbeitete. Die der Finanzkrise folgende Beschäftigungskrise ging scharf zulasten von atypisch Beschäftigten (Leiharbeit, befristete Arbeit usw.). Aber durch konzertierte Aktion zwischen Wirtschaft und Politik wurde im Kern des Beschäftigungssystems meist auf Massenentlassungen verzichtet und auf Kurzarbeit mit staatlicher Unterstützung zurückgegriffen. So konnten die Unternehmen ihre Beschäftigten halten, sich aber zugleich von Kosten befreien.
Die Debatte um die „Krise des Normalarbeitsverhältnisses » kam Mitte der 80er Jahre auf. Die seit Mitte der 70er Jahre einsetzende Wirtschafts- und Beschäftigungskrise hatte mit Dauerarbeitslosigkeit ein breites Spektrum nicht-geschützter Beschäftigung hervorgebracht. Überall in Europa debattierte man die Perspektiven „a-typischer Beschäftigung ». Überall setzten aber auch gesetzgeberische und/oder administrative Maßnahmen ein, die nicht mehr abweichende Beschäftigung zugunsten des (bis dahin als Fiktion herrschenden) Normalitätsstandards zurückzudrängten, sondern sie umgekehrt zur Förderung der Beschäftigung (so das gleichlautende deutsche Gesetz von 1985) ausweiteten. Überall wurden Teilzeitarbeit gefördert sowie befristete Beschäftigung, Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung und Schein- oder wirkliche Selbständigkeit erleichtert.
Streit entbrannte um die mit dessen Krise diagnostizierte Kritik des Normalarbeitsverhältnisses. Für die Einen blieb gerade angesichts seiner Krise das Normalarbeitsverhältnisses gesellschafts- und gewerkschaftspolitischer Bezugspunkt, den es zu verteidigen gelte. Für die Anderen war diese Krise Symptom des notwendigen Umbaus des Wirtschaftssystems vom fordistischen zum post-fordistischen Produktionstyp und des dieses ergänzenden Sozialstaats. Diagnostiziert wurden Symptome des Aufbruchs zu neuartigen Tätigkeits-, geschlechter-, ökologie- und sozialpolitischen Bezugspunkten, zu mehr Selbstbestimmung der Arbeitenden in der Produktion und (damit) erhöhter Verantwortung gegenüber den gesellschaftlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen der Produktion. Diese Umbauvorstellung stand in Verbindung mit den damals vollzogenen Megatrends des Übergangs der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft, der zunehmenden Bedeutung von Frauen in Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft und der Grenzen des Wachstums in einer sich globalisierenden Welt.
Zerbrochene Leitfigur
Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses schlug sich auch in einem Vordringen a-typischer Beschäftigung nieder. Aber es war naiv, nur dies zu sehen (und sich ihm widersetzen zu wollen) – ohne die mit ihr verbundenen weitergehenden Umwälzungen zu sehen und gesellschafts- und gewerkschaftsstrategisch wirksam zu machen:
In der Krise des Normalarbeitsverhältnis kündigte sich erstens das Ende des – damals und über weite Strecken heute noch vorherrschenden – „gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsmodells » aus: Die Mann-zentrierte Ein- oder Zuverdiener-Familie – mit Konzepten etwa des „Familienlohns », des Ehegattensplittings, der sozialen Transfer- statt Natural- und Infrastrukturleistungen; die mit Industriearbeit verbundene Vereinseitung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit; die Geringschätzung externer gesellschaftlicher Effekte von Arbeitsprozess und -produkt; die mit traditioneller Leistungsorientierung verbundene Affinität zu grenzenlosen Wachstumsvorstellungen bei gleichzeitigem Desinteresse an deren ökologischen Grenzen. Wir versuchten zu beweisen, dass mit der – ohnehin über weite Strecken fiktiven – Leitfigur des Normarbeitsverhältnisses nicht nur sozialer Schutz, sondern auch systematischer Leistungsanreiz und soziale Segregation verbunden waren – schon deshalb schieden seine Konservierung oder Wiederherstellung als seriöse Maxime des Handelns aus. Diese Interpretation der Krise des Normalarbeitsverhältnisses rüttelte an den Grundfesten industriegewerkschaftlich geprägter Vorstellungen.
In der Krise des Normalarbeitsverhältnisses drückte sich zweitens – und für Gewerkschaften vielleicht unmittelbar brisanter – eine Krise des gewerkschaftlichen Organisations- und Repräsentationsmodells aus, die bis heute ebensowenig gebändigt ist. „Normalarbeiter » bildeten das Rückgrat der Organisation: Sie waren im ehren- und hauptamtlichen Gefüge präsent und beherrschten dadurch das Geschäft der Betriebs-, Tarif- und Sozialpolitik. Mit dem Wegbrechen des Normalarbeiters drohte auch das Rückgrat der Organisation wegzubrechen. Im Zukunftsreport der IG Metall von 2001 findet sich der Satz: « Die IG Metall spiegelt in ihrer Mitgliederstruktur die bundesrepublikanische Industriegesellschaft der 60er bzw. der 70er Jahre wider ».
Wenn innerorganisatorisch in Vertretungsorganen (Betriebsräten, Verwaltungsstellen und Hauptverwaltungen, Delegiertenversammlungen, Gewerkschaftstagen) noch Interessen und Ansichten dominieren, die sich außerhalb längst verändert haben, befindet sich die Organisation in einer Rekrutierungsfalle. „Nicht-Normalarbeiter » – Frauen, Jugendliche, hochqualifizierte Angestellte, prekär Beschäftigte – nehmen die Gewerkschaft dann nicht als ihre Vertretung wahr, sie schließen sich ihnen folglich nur unterproportional zur Beschäftigtenzahl an, und die Organisation bleibt so eine solche (nur) der Normalarbeiter – auf geht die neue Runde im Teufelkreis…
Neue Strategien
Diese zweite Entwicklung – Krise der Repräsentation, Rekrutierungsfalle – hat die Gewerkschaften stärker in Bewegung versetzt als die erste – Krise des patriarchalisch-produktivistischen Reproduktionsmodells. Das ist nachvollziehbar – diesem Problem abzuhelfen, war unmittelbares Organisationsintereresse, eines der Kassierer, der Machtinhaber. Offen ist noch, ob dieses Rekrutierungs- und Machtinteresse auch ein Hebel für den emanzipatorischen Umbau des wirtschaftlichen und sozialen Reproduktionsmodells werden kann. Die Reaktionen auf die Finanzkrise lassen daran eher zweifeln.
Seit Mitte der 80er Jahre ist die Erosion des Normalarbeitsverhältnis in Deutschland in differenzierter Weise fortgeschritten. Das Ausmaß atypischer Beschäftigung ist vorangeschritten – wohl gerade in den Beschäftigungssegmenten, in den die Beschäftigung besonders stark gestiegen ist. Das gilt wohl für alle genannten atypischen Beschäftigungsformen – aber in absoluten Zahlen am stärksten für Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung. Frauen sind überproportional häufig in diesen Beschäftigungsformen vertreten, wohl auch Jugendliche. Der Dienstleistungssektor und Metropollagen weisen besonders hohe Grade atypischer Beschäftigung auf. Auch wenn die Zahlen je nach Bezugsgröße z. T. beträchtlich schwanken, ist dennoch der weit überwiegende Anteil der Beschäftigung dem nahe, was mit Normalarbeitsverhältnis (hier als Arbeitsvertragstyp) bezeichnet wird. Das Bild einer „2/3-Gesellschaft », das in den 80er mit der Krise des Normalarbeitsverhältnisses verbunden wurde, findet sich in der Realität also durchaus wieder.
Die eingangs angerissene Intervention der deutschen Politik und Wirtschaft zur Abfederung der Folgen der Finanzmarktkrise passen durchaus in dieses Bild. Mit dem Instrument der Kurzarbeit wurden den Beschäftigten Angst genommen und der „industrielle » Friede bestärkt. Zugleich wurde die Bereitschaft der Gewerkschaften erhöht, in Tarifverträgen „Bescheidenheit » zu üben und eher auf Beschäftigungssicherung als auf Lohnerhöhung zu setzen. Gelitten hat vor Allem die Peripherie des Arbeitsmarktes. Immerhin hat dies die Gewerkschaften zu intensiveren Bemühungen um gesetzliche Mindestlöhne – ein Gebiet, auf dem Deutschland weithin Nachzügler ist – und um den Schutz von Leiharbeitern geführt. Der Fort- und Ausgang dieser Bemühungen ist offen…
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