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par Hartmut Seifert

Flexible Arbeitszeiten haben in den letzten Jahren das lange Zeit dominierende und für die fordistische Produktionsweise typische Modell der mehr oder minder starren Normalarbeitszeit abgelöst. Für diesen zeitpolitischen Modellwechsel hat vor allem die Einführung von Arbeitszeitkonten gesorgt.

temps travail

Etwa die Hälfte der Beschäftigten organisiert die Arbeitszeit mittlerweile mithilfe von Zeitkonten. Jede/r Zehnte kann sogar Langzeitkonten nutzen. Weitere etwa 9% der Beschäftigten arbeiten auf Basis von Vertrauensarbeitszeiten. Dieses Modell verzichtet weitgehend auf Arbeitszeitregelungen und funktioniert nach dem Prinzip der Ergebnissteuerung.

Zeitkonten erlauben Betrieben und Beschäftigten, die individuell oder kollektivvertraglich vereinbarte durchschnittliche Arbeitszeit in ungleichmäßigen Portionen auf der Zeitachse zu verteilen. Der Formwandel der Arbeitszeit bedingte einen gleichzeitigen Wandel der prozeduralen Formen. Das Modell der gleichförmigen Normalarbeitszeit basierte auf kollektiven Branchenvereinbarungen, die auf der überbetrieblichen Ebene geregelt wurden. Sie normierten einheitliche Zeitmuster für einen gesamten, meistens branchenweiten Regelungsbereich. Flexible Arbeitszeiten auf Basis von Arbeitszeitkonten verlangen dagegen einen größeren betrieblichen Handlungsspielraum. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eng verknüpft mit der Dezentralisierung der Regelungsstrukturen  

Die rasche Ausbreitung von Arbeitszeitkonten und die gleichzeitige Dezentralisierung der Aushandlungskompetenzen werfen die Frage auf, wie sich diese Entwicklungen auf die zeitpolitischen Positionen der Beschäftigten auswirken. Es lässt sich zeigen, dass die neuen Formen flexibler Arbeitszeiten in der überwiegenden Mehrheit nach festen Spielregeln, nach tarifvertraglich und betrieblich definierten  Regelungsparametern organisiert sind. Gerechtfertigt erscheint deshalb, von regulierter Flexibilität zu sprechen. Zeitpolitik hat als Aushandlungsfeld betrieblicher Interessenvertretung an Bedeutung gewonnen. Tarifverträge legen lediglich den Rahmen der Arbeitszeitgestaltung fest und überlassen den betrieblichen Akteuren, Management und betrieblichen Interessenvertretungen, den Handlungsspielraum auszuhandeln und auszuschöpfen.  

Für kontrollierte Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung bieten die industriellen Beziehungen in Deutschland durch das Prinzip der dualen Interessenvertretung günstige Voraussetzungen. Es basiert erstens auf Kollektivverträgen der Tarifvertragsparteien, die vornehmlich überbetrieblich für einzelne Wirtschaftszweige gelten, und zweitens auf der gesetzlich geregelten Mitbestimmung durch die Betriebsräte (BR). Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) bietet die Möglichkeit, in Betrieben mit mindestens fünf Beschäftigten eine betriebliche Interessenvertretung zu wählen. Etwa 45% aller Beschäftigten arbeiteten 2007 in einem Betrieb mit BR. Die Kernzone der dualen Interessenvertretung, in der sowohl Tarifverträge als auch betriebliche Interessenvertretungen existieren, umfasst in Westdeutschland ein knappes Drittel und in Ostdeutschland nur etwa ein Fünftel der Beschäftigten. In zahlreichen anderen Betrieben haben sich aber neue Formen eher informeller Mitarbeitervertretungen herausgebildet.

Bei etwa drei Viertel aller Zeitkonten sind formalisierte Arbeitszeitregelungen vereinbart. Die Regelungsquote liegt in Betrieben mit BR höher als in denen ohne dieses Organ. Die Regelungen betreffen folgende Zeitparameter. Ober- und Untergrenzen für Zeitguthaben oder -schulden sind ebenso definiert wie die Ausgleichszeiträume oder die Bedingungen für das Ansparen und Auflösen von Zeitguthaben oder -schulden. Diese Regelungen bieten Beschäftigten eine sichere Grundlage, die vereinbarten zeitlichen Eckpunkte zu reklamieren, zu nutzen und im Zweifelsfall auch arbeitsgerichtlich einzuklagen.  

Mit der Einführung von Arbeitszeitkonten waren Hoffnungen aber auch Befürchtungen verbunden. Einerseits wurden den Beschäftigten größere Möglichkeiten der Zeitsouveränität in Aussicht gestellt. Andererseits befürchteten vor allem die Gewerkschaften wegen des strukturellen Machtungleichgewichts in den Betrieben und der im Vergleich zu den überbetrieblichen Akteuren schwächeren Position der Betriebsräte (fehlendes Streikrecht) das genaue Gegenteil. Was lehrt die bisherige Praxis?

Zeitkonten können Beschäftigten im Unterschied zu gleichförmiger Normalarbeitszeit („goldener Käfig") mehr Spielraum bieten, Dauer und Lage der täglichen Arbeitszeit besser nach außerbetrieblichen Zeitanforderungen zu bestimmen. Das Gegenteil kann der Fall sein, wenn Betriebe Arbeitszeitkonten nutzen, um den Arbeitseinsatz enger mit einer volatilen Marktnachfrage zu synchronisieren und dabei keine Rücksicht auf die privaten Zeitbelange der Beschäftigten nehmen. Zeitkonten bedeuten dann riskante Freiheiten.

Diese Gestaltungsambivalenz bestätigen empirische Befunde. Beschäftigte, die formal über Spielraum bei der Festlegung ihrer täglichen Anfangs- und Endzeiten verfügen, beurteilen diese Gestaltungsmöglichkeiten überwiegend (62%) positiv und nur eine Minderheit (19%) vertritt eine gegenteilige Auffassung. Etwas positiver noch beurteilen die BR den Spielraum für individuelle Zeitgestaltung im Vergleich zur Normalarbeitszeit. Diese Befunde sind als grobe Tendenzaussage zu verstehen. Einen wesentlichen Einfluss auf den Grad der Zeitsouveränität haben Erwerbsstatus und Arbeitsorganisation; förderlich sind flache Hierarchien, teilautonome Arbeitsgestaltung und breite Qualifikationen.  

Nicht nur die Arbeitszeit sondern auch das für Deutschland typische System der industriellen Beziehungen sind geschmeidiger geworden. Die betriebliche Ebene der Interessenvertretung gewinnt an Regelungskompetenzen, ohne dass der schützende Rahmen der Tarifverträge völlig aufgegeben wird. Die Betriebe können sich vom Korsett des einheitlichen tariflichen Arbeitszeitstandards befreien. Regulierte Flexibilität verhindert, dass die Beschäftigten schutzlos einer beliebig flexiblen Arbeitszeitgestaltung durch die Arbeitgeber ausgeliefert sind. Unter günstigen Bedingungen, vor allem bei einer starken betrieblichen Interessenvertretung können die Beschäftigten sogar im Vergleich zur Normalarbeitszeit an Zeitsouveränität gewinnen.

Dr Hartmut Seifert Hans Böckler Stiftung

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